Herbst ’61

Doch, dass hiernach die zwanzigtausend Vögel sich in dunkle Tage verwandelten,
hätte man wissen können.

Herbst ’61.

Unter den hohen Pappeln am alten Bahndamm zwischen stürzendem Blattwerk lag sein toter Bruder, der so viel älter gewesen war, dass er ihn nach wie vor für seinen Vater hielt. Efeu vom Damm zog den kleinen Jungen hoch auf das schwarze Dach über dem Bahnhof Ost. Großmutter schnitt ihn aus dem Gestrüpp und verdeckte nur unzureichend mit bewährtem Fünfzigerjahre-4711-Strickschalhandschuhleder seinen Blick auf den unzaghaft wankenden Schauplatz. Stier verfolgten die Augen der Radkappen unter den flaschengrünen Polizeikraftwagen einem Kanalloch entquellende Ratten bis hin zum kleinen Gärtchen.

„Familiendrama … dorthinauf … hundertfünfzig Meter … Lämmerspieler Weg, fünfter Stock“, rief einer, der grünste aller tannengrünen Hauptwachtmeister. („Mitnahmesuizid“, verstand der kleine Junge, obwohl man das in jenen Tagen noch nicht zu sagen pflegte.)

Großmutter, herbeieilende Mütter, zitierte Väter und Schaulustige furchten allerlei vertikale Linien in die Glabella. Man schwieg raumlos. Wie eigentlich nur die Abwesenheit von Materie schweigen sollte. Martinshörner dissonierten elf Strophen aus einem verkorksten Lied, von dem der kleine Junge aber später den Text vergessen haben würde.

Dass der tote große Bruder des kleinen Jungen Buchenwald überlebt hatte, hätte man ihm sagen können, dass die Frau des toten großen Bruders des kleinen Jungen Dachau überlebt hatte, hätte man ihm sagen können …doch nicht diesen verdammten fünften Stock in diesem verschissenen Lämmerspieler Weg?

Hätte man ihm sagen müssen.

So entschloss sich der kleine Junge, für immer sieben zu bleiben, um herauszufinden, was wirklich geschah. Und, warum die zwanzigtausend Vögel sich in dunkle Tage verwandelten.

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Als nach den kurzen Jahren alle, die davon noch wissen konnten, starben, da war er immer noch sieben, und es ereigneten sich einige merkwürdige Begebenheiten, von denen der Erzähler aber nur noch von einer zu berichten weiß:

Herbst 2011. Da stand er unter einer Pappel, ein Blatt fiel und er verspürte ein Verlangen, sich dürstend und fiebrig daneben zu legen. Aber er wusste nicht mehr warum. Es machte ihn aber auch nicht älter.

Man hätte es ihm sagen sollen.

Dass um die Schuld ein stabiles Gerüst wächst. Und, dass die Gerechtigkeit
niemals das Tal mit den Apfelblüten verlässt. Niemals!

… und darum blieb sein liebstes Umstandswort stets übrigens.


Text in „1000 Tode schreiben”
@FrauFrohmann #1000Tode
frohmannverlag
erhältlich: hier

ISBN ePub: 978-3-944195-55-1 /ISBN mobi: 978-3-944195-56-8

Die Herausgeber- und Autorenanteile an den Erlösen werden dem Kindersterbehospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow gespendet.